Während sich die Eignung eines Bewerbers hinsichtlich der fachlichen Qualifikationen leicht aus Lebenslauf und Zeugnissen ablesen lässt, sieht es bei den sogenannten Soft Skills, zu denen auch die Charaktereigenschaften gehören, schon ganz anders aus.
Damit die Einordnung von Charaktereigenschaften nicht einfach dem Bauchgefühl der Personaler überlassen wird, können Persönlichkeitstests Abhilfe schaffen. Denn zur langfristigen Bindung und für eine fruchtbare Zusammenarbeit muss ein Bewerber zur Unternehmenskultur passen. Neben dem Bewerbungsgespräch sind daher Persönlichkeitstests eine verbreitete Methode, um mehr über die Charaktereigenschaften von Bewerbern zu erfahren.
Charaktereigenschaften anhand psychologischer Modelle einschätzen
Eigenschaftsbasierte Ansätze der Psychologie gehen davon aus, dass sich die Persönlichkeit eines Menschen aus bestimmten, als stabil zu betrachtenden Charaktereigenschaften (sogenannte Traits) zusammensetzt. Insbesondere diese lassen Vorhersagen des individuellen Verhaltens zu. Dabei existiert innerhalb der Persönlichkeitspsychologie keine einheitliche Theorie, sondern unterschiedliche Erklärungsansätze, die auch von dem jeweils zugrundeliegenden Menschenbild geprägt sind.
Das Fünf-Faktoren-Modell (Big 5)
Das aktuell bedeutendste eigenschaftsbasierte Modell ist das sogenannte Fünf-Faktoren-Modell (auch Big 5). Nach diesem basiert die menschliche Persönlichkeit auf fünf stabilen Charaktereigenschaften, die Psychologen als Dimensionen bezeichnen:
Extraversion als Ausmaß der Geselligkeit eines Menschen
Extravertierte Menschen (= hohes Ausmaß) werden als herzlich und gesellig, aber auch als aktiv, optimistisch und durchsetzungsfähig beschrieben. Introvertierte Menschen (= geringes Ausmaß) sind von ihren Charaktereigenschaften dagegen zurückhaltender, aber auch unabhängiger in Bezug auf gesellschaftlich-soziale Normen.
Neurotizismus als Ausmaß der emotionalen Stabilität
Neurotizistische Menschen (= hohes Ausmaß) zeigen bei ihren Charaktereigenschaften starke Stimmungsschwankungen und sprunghafte Emotionen. Sie sind impulsiv und reizbar, aber auch häufig ängstlich. Menschen mit geringer Neurotizismus-Ausprägung sind dagegen eher ruhig und gelassen.
Verträglichkeit zur Einschätzung des Verhaltens bei sozialen Interaktionen
Verträgliche Menschen (= hohes Ausmaß) kommen durch ihre Charaktereigenschaften gut mit ihren Mitmenschen aus, denn sie gelten als sympathisch, sind hilfsbereit, kooperativ und freundlich. Weniger verträgliche Menschen (= niedriges Ausmaß) sind dagegen skeptisch und misstrauisch sowie weniger kooperativ und entgegenkommend.
Gewissenhaftigkeit als Ausmaß von Selbstdisziplin und Kontrolle
Gewissenhafte Menschen (= hohes Ausmaß) sind entschlossen, gut organisiert und planvoll. Sie sind laut ihren Charaktereigenschaften leistungsbereit, pflichtbewusst und zuverlässig im Hinblick auf die ihnen zugeteilten Aufgaben. Weniger gewissenhafte Menschen (= niedriges Ausmaß) sind dagegen eher leicht abzulenken und unzuverlässig.
Offenheit als Ausmaß der Bereitschaft sich auf Neues einzulassen
Offene Menschen (= hohes Ausmaß) neigen zu unabhängigem und unkonventionellem Denken und haben ein gutes Vorstellungsvermögen. Weniger offene Menschen lieben Vertrautes und denken in konventionellen Bahnen.
In vielen internationalen Studien ist das Fünf-Faktoren-Modell bestätigt worden. Daher gelten die hier vorgestellten Charaktereigenschaften als länder- und kulturübergreifend. Entsprechend wird dieses Modell nicht nur in der Forschung, sondern auch in der wirtschaftspsychologischen Praxis zur Beschreibung der Gesamtpersönlichkeit eingesetzt. Denn auch das berufliche Leben wird von Charaktereigenschaften und der individuellen Persönlichkeit beeinflusst. So ergreifen verträgliche Personen eher soziale Berufe, offene Menschen hingegen eher künstlerische oder forschende Tätigkeiten. Gewissenhaftigkeit gilt zudem als bedeutender Prädiktor für beruflichen Erfolg.
Charaktereigenschaften erkennen: Anwendung von Persönlichkeitstests in der Praxis
Charaktereigenschaften lassen sich durch speziell entwickelte Fragebögen für die Big 5 ermitteln. Diese können auch bei der Personalauswahl zur Erstellung von Persönlichkeitsprofilen eingesetzt werden. So können Bewerber zusätzlich zu den üblichen Bewerbungsunterlagen auch einen Persönlichkeitstest ausfüllen. Je nach Aufgabenstellung und Stelle sind unterschiedliche Charaktereigenschaften der Bewerber nötig.
Beispiel:
In einem international aufgestellten Softwareunternehmen wird ein Vertriebsmitarbeiter gesucht. Anhand von Stellenbeschreibung und stellenspezifischen Anforderungen kann ein Sollprofil erzielt werden. Typischerweise müssen Vertriebsmitarbeiter folgende Charaktereigenschaften mitbringen:
- überdurchschnittlich aktiv, kontaktfreudig und durchsetzungsfähig (= hohe Ausprägung bei Extraversion),
- überdurchschnittlich zuverlässig und gewissenhaft (= hohe Ausprägung bei Gewissenhaftigkeit)
- teamfähig (= mindestens mittlere Ausprägung in Verträglichkeit)
- stark belastbar (= niedrige Ausprägung bei Neurotizismus)
- äußerst aufgeschlossen gegenüber fremden Kulturen, da internationales Unternehmen (= hohe Ausprägung bei Offenheit)
Das Sollprofil ist mit den Persönlichkeitsprofilen, also den Charaktereigenschaften der Bewerber zu vergleichen. Auf diesen und den Lebensläufen basierend kann man nun eine objektive und verlässliche Vorauswahl für die Bewerbungsgespräche treffen. Auf diese Weise stellt man zum einen bereits zu einem frühen Zeitpunkt sicher, dass die Bewerber von ihren Charaktereigenschaften zur Unternehmenskultur passen, und zum anderen spart man auch erhebliche Kosten.
Fazit: Wie gut kann man Charaktereigenschaften einschätzen?
Persönlichkeitstest ermöglichen eine objektive Einschätzung von Charaktereigenschaften. Als Ergänzung zu anderen Auswahlkriterien wie Qualifikationen, Leistungstests und Interviews können sie zu einem holistischen Bild vom Bewerber beitragen und sicherstellen, dass man den richtigen Kandidat für Stelle und Unternehmen wählt.

Ana Karen Jimenez ist Redakteurin beim Deutschen Coaching Fachverlag und hat ihren Bachelor in Literaturwissenschaften und Spanisch an der Eberhard Karls Universität Tübingen abgeschlossen. Sie ist in den Magazinen für lesenswerte Ratgeber und vielfältige Kundentexte verantwortlich.
